Als Selbstführung definieren wir mit Graf die selbstverantwortliche Steuerung und Gestaltung des eigenen Lebens, so dass die eigene Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft, das eigene Wohlbefinden und die Balance gestärkt und langfristig erhalten werden. Unter Selbststeuerung versteht man die gezielte Aktivierung und Lenkung von Selbstkontrolle und Selbstregulation. Selbstkontrolle beschreibt die Fähigkeit, das eigene Verhalten so zu kontrollieren, dass man tun kann, was man sich vorgenommen hat, auch bei Ablenkungen oder Anstrengung. Sie ist besonders wichtig, um langfristige Absichten und Ziele verfolgen zu können. Und Selbstregulation schliesslich umfasst die bewusste Steuerung und Abstimmung innerer Anteile (Emotionen, Kognitionen, Handlungsimpulse) zugunsten eines situativ passenden Verhaltens.
Selbstführungskompetenz lässt sich dabei auf drei Ebenen verorten:
I Selbstverantwortung, als Ebene der Werte und Haltungen
II Selbsterkenntnis als Ebene der Reflexion und
III Selbstentwicklung als Ebene der Handlung
Selbstverantwortungskompetenz bedeutet
«…dass Menschen bewusst ist, in welche Richtung sie im Leben gehen wollen, sodass Sinn entsteht. Sie haben für sich ein persönliches Leitbild definiert und gestalten ihr Leben so, dass die wesentlichen Dinge genügend Raum und Priorität erhalten. Sie sind sich ihrer Grenzen bewusst und können diese respektieren, vertreten und durchsetzen. Sie wissen, wann ein Nein zu anderen ein Ja zu sich selbst ist. Sie kommunizieren ihre Anliegen und sind bereit, Dinge oder Personen, die ihnen nicht guttun, loszulassen und nicht der Vergangenheit verhaftet zu bleiben. Sie sind in der Lage, die dafür notwendigen Entscheide zu treffen und durchzustehen.“ (Graf, S.62).
Methoden:
- Angeleitete Retreats, Vision Quests
- Psychotherapie, Coaching
- Individuelle Auszeiten, persönliche Einkehr
Selbsterkenntniskompetenz bedeutet
„...dass Menschen über die Fähigkeit und die Bereitschaft verfügen, neue Erkenntnisse und Einsichten über sich selbst zu gewinnen. Sie nutzen verschiedene Quellen zur Gewinnung von Selbsterkenntnis und sind befähigt, eigene Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen zu reflektieren. Sie erkennen ihre Bedürfnisse, Motivationsanreize und Werte und sind sich ihrer Kompetenzen und Potenziale bewusst. Sie betrachten Signale ihres Körpers als wichtige Informationsquelle für das eigene Wohlbefinden.“ (Graf, S.63)
Methoden:
- Resonanz und Feedback in Lernzirkeln, Supervision, peer to peers
- Selbsterkundung: U-Journaling, Wheel of Live, Ikigai, Stärken-ACs, BIP, The Work u.v.a.
- Tagebuchmethode
- Meditation, Körperarbeit, Naturdialog
Selbstentwicklungskompetenz bedeutet
„...dass Menschen die Fähigkeit und die Bereitschaft besitzen, zu lernen, zu wachsen und sich weiterzuentwickeln. Sie haben lebenslanges Lernen als Prinzip verinnerlicht. Sie sind in der Lage, Bedürfnisse und persönliche Entwicklungsziele in Handlungen zu überführen und so das Leben in die Richtung zu steuern, die dem entspricht, was sie erreichen möchten. Sie können sich von Zielen und Ansprüchen lösen, die unerreichbar geworden sind, und sie besitzen Flexibilität in Bezug auf ihre Lebensgestaltung.“ (Graf, S.64)
Methoden:
- Arbeitstechnik, Zeitmanagement, Priorisierungen
- Tools, wie Kanban, Getting things done, digital Cleaning u.a.
- Rituale
- Kontinuierliche Praxis der Selbststeuerung (Atmung, Körper, Meditation, etc.)
Woran wird gute Selbstführung gemessen? Welche Wirkung sollte gute Selbstführung haben? Anita Graf ordnet die Kriterien in vier Wirkungsbereiche:
- Leistungsfähigkeit: Kompetenzentwicklung, Arbeitsmarktfähigkeit, Gesundheit
- Leistungsbereitschaft: Identifikation, Engagement, Kreativität
- Wohlbefinden: Positives Grundgefühl, Engagement, Flowerleben, gelingende Beziehungen, Sinnerleben, Zielerreichung, Erfolg
- Balance: Balance körperlicher Bedürfnisse: Ernährung, Schlaf, Bewegung, individueller Rhythmus (Aktivierung/ Entspannung), Emotionsmanagement, Ausgeglichenheit, geistige Balance von Konzentration und Loslassen, Life-Domain-Balance im Sinne ausgewogener Priorisierung von Bedürfnissen in verschiedenen Lebensbereichen
Warum wir als Organisationsentwickler:innen so beharrlich auch an der individuellen Selbstführungskompetenz arbeiten? Weil Menschen individuell und kollektiv bessere Entscheidungen treffen, und weil es ihnen in der heutigen subjektivierten Arbeitswelt besser geht, wenn sie eine hohe Selbstführungskompetenz haben.
Die heute in vielen Arbeitskontexten vorhandene Autonomie verlangt von uns die selbstverantwortliche Begrenzung unserer Arbeitsleistung, die selbstverantwortliche Erhaltung der Arbeitsfähigkeit, eine selbstverantwortliche Karriereentwicklung, Lernbereitschaft, gekonnte Selbstvermarktung. Die Flexibilitätsanforderungen sind hoch: zeitlich, örtlich, inhaltlich, sozial. Die Regulation im Umgang mit Information (Zugänglichkeit, Menge, Vielfalt, Unterbrechungen) will gemeistert sein. Wir sind gefordert in der Balance unserer Lebensbereiche (Vereinbarkeit, verwischende Grenzen).Verschiedene future skills Taxonomien bestätigen die Wichtigkeit von Selbstverantwortung und Selbstführung.
Angesichts multipler Anforderungen ist innere Orientierung gefragt, und um diese zu erlangen braucht es einiges an innerer Arbeit. Innere Arbeit heisst: Wir verstehen es als fortlaufende Praxis, an uns zu arbeiten, uns zu entwickeln und zu wachsen. Wir übernehmen die Verantwortung für unser Denken, Fühlen und Handeln und gestalten unser Leben im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdbestimmung. Wir wissen, was wir können, wollen, brauchen.
Wir haben einen inneren Kompass und können uns selbst navigieren, auch in anspruchsvollen oder gar restriktiven Situationen.
Literatur für Theorie- und Konzeptinteressierte:
- Bauer, J. (2015). Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens. München: Heyne
- Ciompi, L. (1997) Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1997 oder: http://www.ciompi.com/de/affektlogik.html
- Fink, F. & Moeller, M. (2018). Purpose Driven Organizations. Sinn – Selbstorganisation – Agilität. Stuttgart: Schaeffer Poeschel.
- Graf, A. (2019): Selbstmanagement-Kompetenz in Organisationen stärken. Leistung, Wohlbefinden und Balance als Herausforderung. Wiesbaden: Springer Gabler.
- Marti, S. (2018). Herausforderung Selbstführung. Winterthur: Selbstverlag
- Seliger, R. (2014). Positive Leadership. Die Revolution in der Führung. Stuttgart: Schaeffer Poeschel.
- Zbinden, M. (2022): Menschlichkeit in der Führung. Mitarbeitende und Organisationen authentisch und erfolgreich führen