Mit steigenden Ansprüchen an ein erfülltes Privat- und Berufsleben kommen viele Menschen in Entscheidungssituationen, die innere Zerrissenheit, Druck oder Zweifel auslösen können. Die vielen Wahlmöglichkeiten tun ihres dazu. Aufgrund des erlebten Unvermögens, sich klar für eine Option entscheiden zu können, gesellt sich vielfach Selbstabwertung dazu.
Ambivalenz als innerer Zustand einer Person beschreibt die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen zwischen Denken, Fühlen und Handeln. Gunther Schmidt spricht sogar von Multivalenzen: Je nach Situation können verschiedene Seiten in ein und demselben Menschen aktiviert werden, die unterschiedliche Erlebniszustände hervorrufen.
Schnelle Entscheidungen bewahren zwar vor Spannungszuständen, führen aber auch dazu, dass wir stimmigere Optionen übersehen.
Wie können wir Ambivalenz nutzen?
Es beginnt damit, die Gleichzeitigkeit von Gegensätzen anzuerkennen und zu lernen, Nicht-Wissen, gefühlsmässige Verwirrung und Handlungs-Blockaden auszuhalten. Ambivalenzen sind in unserer komplexen Welt normal und geben Hinweise auf zentrale gleichzeitig bestehende, widersprüchliche Bedürfnisse, wie z.B. das Bedürfnis nach Sicherheit vs. das Bedürfnis nach neuen Erfahrungen: Kündige ich nun ins Blaue oder nicht?
In solchen Momenten lohnt es sich, sich Zeit für eine vertiefte Auslegeordnung zu nehmen: Sich mit allen Einflussfaktoren zu beschäftigen, die Vielfalt der Gedanken und Gefühle wahrzunehmen, mögliche Auswirkungen von Entscheidungen zu reflektieren und zu erspüren. Das kann auf unterschiedliche Weise angegangen werden:
Eine künstlerische Auseinandersetzung kann hilfreich sein, z.B. ein Bild malen oder eine Skulptur gestalten. Auch schreiben ist eine gute Möglichkeit, seine Wahrnehmung zu erweitern und zu ordnen.
Gespräche, bei denen die Gesprächspartner:innen gut zuhören und ihre eigene Wahrnehmung zum Gehörten und zu Emotionen teilen, können die eigene Reflexion vertiefen.
Jede Seite, die als innere Stimme in uns spricht, sollte genau angehört werden. Was für eine Geschichte erzählt uns die innere Stimme jeder Seite über uns? Was erfahren wir dabei über uns? Innere Selbsterkundung ist angesagt und vielleicht gelingt es sogar, diese inneren Stimmen miteinander in Dialog zu bringen.
Wichtig ist, einerseits nichts zu überstürzen und andererseits den Kern der eigenen Ambivalenz zu finden. Die inneren Bewegungen sollten wahrgenommen werden und eigenen Absichten sollten reifen. Es ist entscheidend, zu beobachten, wie sich Optionen und Ambivalenzen im Laufe der Zeit entwickeln. Vielleicht zeichnen sich plötzlich «sowohl-als-auch»- oder «weder-noch»– Lösungen ab oder es entsteht Mut oder Gelassenheit für einen nächsten Schritt, auch bei bestehenbleibender Ambivalenz.
Ambivalenz birgt eine besondere Kraft, wenn man gewillt ist, sich mit ihr auseinanderzusetzen und sich selbst stetig besser kennenzulernen. Es erfordert etwas Aufmerksamkeit und Zeit, und man wird reich beschenkt.
Weitere Literatur, Videos:
Marina Barz und Wolfgang Looss (2008): Die verborgenen Juwelen der Ambivalenz. Profile 16/08.
Gunther Schmidt (2013): Will ich jetzt ambivalent sein oder nicht? Vortrag vom 21.3.2013 in Karlsruhe präsentiert von der Gesellschaft für systemische Beratung