Deep Listening - Die Kunst des tiefen Zuhörens

Es gibt wenig Text­pas­sa­gen, die mir so tief in Er­in­ne­rung blie­ben, wie die Be­schrei­bung von Mi­cha­el Endes Momo:

Was die klei­ne Momo konn­te wie kein an­de­rer, das war: Zu­hö­ren. Das ist doch nichts Be­son­de­res, wird nun viel­leicht man­cher Leser sagen, Zu­hö­ren kann doch jeder. Aber das ist ein Irr­tum. Wirk­lich Zu­hö­ren kön­nen nur ganz we­ni­ge Men­schen. Und so wie Momo sich aufs Zu­hö­ren ver­stand, war es ganz und gar ein­ma­lig. Momo konn­te so zu­hö­ren, dass dum­men Leu­ten plötz­lich sehr ge­schei­te Ge­dan­ken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder frag­te, was den an­de­ren auf sol­che Ge­dan­ken brach­te; nein, sie saß nur da und hörte ein­fach zu, mit aller Auf­merk­sam­keit und aller An­teil­nah­me. Dabei schau­te sie den an­de­ren mit ihren gro­ßen, dunk­len Augen an, und der Be­tref­fen­de fühl­te, wie in ihm auf ein­mal Ge­dan­ken auf­tauch­ten, von denen er nie ge­ahnt hatte, dass sie im ihm ste­cken.

Wann hat Dir je­mand in einer Art und Weise zu­ge­hört, in der Du Dich rich­tig ver­stan­den fühl­test. Wo je­mand nur bei Dir, Dei­nen Ge­dan­ken und Ge­füh­len war in vol­ler Prä­senz? Was hat das bei Dir aus­ge­löst? Wel­che Qua­li­tät an Ge­spräch ist dar­aus ent­stan­den?

Was sind die In­gre­di­en­zen, die Zu­hö­ren zu einem tie­fen Zu­hö­ren ma­chen? 

Deep Lis­te­n­ing ist kein pas­si­ver Vor­gang, son­dern er­for­dert hohe Kon­zen­tra­ti­on und Auf­merk­sam­keit auf allen Ebe­nen des Er­le­bens: hö­rend, se­hend, füh­lend und den­kend.

Zu­erst ein­mal geht es darum, prä­sent zu sein: Sei­nen Kör­per wahr­zu­neh­men, sei­nen Ge­dan­ken­fluss zu lee­ren und sich in­ner­lich mit dem Ge­gen­über zu ver­bin­den. 

Dann kann man das in­ne­re Be­wer­ten einen Mo­ment still wer­den las­sen, diese in­ne­re Stim­me, die re­flex­ar­tig alles mit «gut/nicht gut», «stim­me zu/nicht zu», «gebe dir recht/nicht recht» ti­tu­liert.

Statt­des­sen stellt man die ei­ge­ne Per­spek­ti­ve zu­rück, öff­net sich mit Neu­gier­de für das Un­be­kann­te, Un­er­war­te­te, folgt mit of­fe­nen Ohren dem Ge­dan­ken­fluss der/des Ge­sprächs­part­ner:in. Mit die­ser Art von Prä­senz und Auf­merk­sam­keit un­ter­stützt man sein Ge­gen­über, sein oder ihr Bes­tes zu fin­den und zu zei­gen. Claus Otto Schar­mer nennt es des­halb auch «das schöp­fe­ri­sche Zu­hö­ren».

Im dich­ten, oft reiz­über­flu­te­ten Füh­rungs­all­tag ist es eine Her­aus­for­de­rung, in die­ser Weise zu­zu­hö­ren. Man muss eine ei­ge­ne Pra­xis ent­wi­ckeln, um in die nö­ti­ge Prä­senz zu kom­men, man muss das tiefe Zu­hö­ren er­ler­nen und üben.

Diese Qua­li­tät des Zu­hö­rens ist eine der wir­kungs­volls­ten trans­for­ma­ti­ven Fä­hig­kei­ten von Füh­rungs­kräf­ten und eine der wohl am meis­ten un­ter­schätz­ten. 

Um es zu un­ter­stüt­zen, gibt es ein­fa­che be­glei­ten­de Mass­nah­men:

  • Nimm Dir Zeit, die vor­he­ri­ge Auf­ga­be emo­ti­o­nal und ge­dank­lich ab­zu­sch­lies­sen.
  • Vor dem Ge­spräch:
    • Atme 5 x tief durch, nimm Dei­nen Kör­per wahr und/oder schütt­le ihn aus. Mach Dich be­wusst in­ner­lich leer
    • Ver­bin­de Dich in­ner­lich em­pa­thisch-zu­ge­wandt einen Mo­ment mit Dei­ner/Dei­nem Ge­sprächs­part­ner:in
  • Im Ge­spräch:
    • Lass Dir Zeit, um in Kon­takt zu kom­men. Be­gin­ne das Ge­spräch nicht zu rasch.
    • Nimm eine ent­spann­te Kör­per­hal­tung ein. Lehne Dich zu­rück.
    • Nimm Dir Zeit, die Ge­dan­ken des Ge­gen­übers in Dir wir­ken zu las­sen, über das Ge­sag­te nach­zu­den­ken.
    • Mach den Ge­gen­check: Wem höre ich ge­ra­de zu? Mei­nem Ge­gen­über? Oder mei­nen ei­ge­nen Ge­dan­ken, die das Ge­sag­te in­ner­lich kom­men­tie­ren?

Wir alle wer­den in der Tiefe be­rührt, wenn wir uns ge­se­hen, ge­hört und wirk­lich ver­stan­den füh­len. Es ist ver­trau­ens­bil­dend und schafft einen ge­mein­sa­men Raum, wo Ge­dan­ken, Ideen und Lö­sun­gen ent­ste­hen kön­nen.

Beitrag von Markus Gygli
Am 23.10.2023

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